Die Ärzteschaft ist sich nicht einig, ob sie für eine öffentliche Einheitskrankenkasse einstehen soll oder nicht. Gestern meldete sich die Fraktion der Befürworter zu Wort.
Die Ärzte der Romandie sind mehrheitlich für eine Einheitskrankenkasse; und die Deutschschweizer sind mehrheitlich dagegen. Bei der FMH haben anfangs Mai 200 Delegierte «nach intensiver
Diskussion der Pro- und Contra-Argumente» die Stimmfreigabe beschlossen. Der Verband der Hausärzte wollte es ebenfalls wissen und kam im Juni bei einer Umfrage bei seinen Mitgliedern zum gleichen
Ergebnis: 40 Prozent sind dafür, 40 Prozent sind dagegen und 20 Prozent befürworten eine Stimmfreigabe. Marc Müller, Hausarzt in Grindelwald und Präsident von Hausärzte Schweiz: «Wir haben bei
den Ärzten einen Röstigraben». Der Souverän entscheidet am 28. September 2014.
Vom Ausland lernen
Schon im März sprachen sich ausgewählte Ärztinnen und Ärzte gegen eine Einheitskrankenkasse aus, darunter auch Walter Grete, der ehemalige Präsident der Ärztegesellschaft des
Kantons Zürich. Sie sagten, der Blick ins Ausland zeige, dass Einheitskassensysteme die freie Arzt- und Therapiewahl einschränkten, Schuldenberge produzierten, den Katalog medizinischer
Leistungen limitierten und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung erschwerten.
Gestern waren nun die Befürworter an der Reihe. Sie hielten in Bern eine Medienkonferenz ab. Einige hundert Ärztinnen und Ärzte haben sich zum «Ärztekomitee für die öffentliche Krankenkasse»
zusammengeschlossen. Darunter die Gynäkologin Anna Andermatt vom Kantonsspital Aarau.
Anna Andermatt erzählte, wie sie als Assistenzärztin mit Büroarbeit überhäuft werde. Laut einer Erhebung der FMH müssten sich Spitalärzte zu 50 Prozent der Arbeitszeit mit administrativen
Belangen herumschlagen. Besonders mühsam sei das mit den Kostengutsprachen. Jede Kasse verfahre anders. Häufig würden für die Rehabilitation Kostengutsprachen bewusst verzögert. Die 31-jährige
Assistenzärztin, die im aargauischen Grossen Rat die SP vertritt, sprach von Schikanen und ist überzeugt, dass Ärztinnen und Ärzte bei einer öffentlichen Einheitskasse von administrativem Kram
entlastet würden.
Wiederholt geisselten die an der Medienkonferenz anwesenden Ärzte die Jagd nach guten Risiken, sprich: jungen und gesunden Leute. Laut René Haldemann, Hausarzt im zürcherischen Richterswil,
versuchten die Kassen, ältere Menschen und Chronischkranke wie die «Schwarze-Peter-Karte» loszuwerden. «Ich könnte Ihnen einen ganzen Nachmittag ausfüllen mit Beispielen, was ich mit
Krankenkassen schon erleben musste.»
Die Frage drängt sich auf: «Warum, Herr Haldemann, stimmen 40 Prozent der Hausärzte für den Status quo, wenn doch die Verhältnisse laut Ihrer Schilderung so schlimm sind?» Vor allem
Hausärzte, welche in Netzwerken gefangen seien, würden für die Kassenvielfalt eintreten, erwiderte Haldemann. Er bekämpfte vor Jahren an vordester Front die Managed-Care-Vorlage, welche im Juni
vor zwei Jahren an der Urne mit 76-Prozent Nein-Stimmen versenkt wurde.
Freie Arztwahl - oder nicht?
Für den Augenarzt Michel Matter, Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Genf, spricht noch ein weiteres Argument für die Einheitskasse: der Kontrahierungszwang. Die
Krankenkassen liessen heute nichts unversucht, die freie Arztwahl einzuschränken. Bei einer Einheitskasse sei dagegen die freie Arztwahl gewährleistet.
Interessant: Genau das gleiche Argument der freien Arztwahl bemüht auch die Gegenseite, wie eingangs zitiert. Nach ihrer Auffassung zeigt der Blick ins Ausland, dass Einheitskassensysteme
die freie Arzt- und Therapiewahl einschränkten.
Erschienen in der BZ am 30. Juli 2014